Die ersten Tage

Seit Montag bin ich nun hier. Scheisse, die ersten Tage waren schrecklich für mich und ich wäre am liebsten wieder abgereist.

 

Der erste Schock war schon beim Abendessen. Als ich die Portionsgröße sah, bekam ich Angst. Und auch mein Essverhalten - komplett anders. Plötzlich werden die Bissen viel kleiner und ich kaue auf dem Brot, als wäre ich ein Wiederkäuer. Irgendwann kommt mir in den Kopf, das ich schon immer mal so oft kauen wollte und es nie fertig gebracht habe. Hier bekomme ich es anders nicht hin. Wir sitzen nur zu viert am Tisch. 3 Patienten und der Betreuer. Die Stille lastet auf mir und gleichzeitig bin ich aber froh, das es so still an meinem Tisch ist. Der laute Lärm um mich herum geht mir tierisch auf den Zeiger und ich wünsche mich in die Sicherheit meines Zuhauses zurück. Warum war ich nur so blöd und habe mich so in die Essstörung fallen lassen, das ich heute hier sitzen muss?

 

Ich merke, wie ich mit jedem einzelnen Bissen immer satter werde. Nach dem ersten Brot mit Käse könnte ich theoretisch schon aufhören. Ich halte aber durch und esse mich Bissen für Bissen durch ein zweites Käsebrot. Danach muss ich aufhören, nichts geht mehr in meinen Magen und der letzte Bissen steht mir bis zum Hals. Mein Betreuer weißt mich leise darauf hin, das ich mir die anderen beiden Brote schmieren und belegen soll. Ich darf sie dann später fertig essen, meine Welt steht still.

 

Essen - Essen - Essen - ich nehme hier zu - ich nehme hier zu - Essen - Essen - Essen - ich nehme hier zu - ich nehme hier zu - Essen - Essen - Essen - ich nehme hier zu - ich nehme hier zu - Essen - Essen - Essen - ich nehme hier zu - ich nehme hier zu ............

 

So ungefähr laufen meine Gedanken im Sekundentakt in meinem Hirn Kreise und ich bekomme sie nicht zum stoppen. Scheiße, Scheiße, Scheiße und was jetzt. In Panik wähle ich die Nummer von meinem Schatz....hol mich bitte hier raus, die wollen mich mästen .... ich komme mit noch viel mehr Kilos wieder heim ..... ne, ne das kannst du dir nicht vorstellen .... ich muss nach dem Essen 2 Stunden in einem Raum mit anderen sitzen bleiben, ich darf hier keine Treppen gehen und Ausgang habe ich auch keinen .... ich will einfach nur heim zu dir, bitte hol mich ab!

 

Heulend rede ich auf  ihn ein und er versucht mich zu beruhigen. Die Nacht wird ziemlich unruhig für mich und am Morgen wache ich mit Kopfschmerzen auf.

 

Verkrampft und angespannt ziehe ich mich an, jetzt ist Wiegen angesagt. Ich habe Null Ahnung, bis ich in den Raum muss. Alles runter, bis auf Slip und BH und so stehe ich auf der Waage. Ich bin schockiert über die Zahl die mir entgegenspringt, aber kaum bin ich aus dem Zimmer, kann ich mich schon nicht mir exakt an mein Gewicht erinnern. Anti-Depressiva sei Dank, mein Hirn besitzt die Merkfähigkeit einer Stubenfliege.

 

Dann muss ich noch Blutdruck messen lassen, Blut wird gezapft und anschliessend geht es auch schon zum Frühstück. Auf meinem Teller sind 2 Brötchen, 2 Butter, 1 Marmelade und einige Scheiben Käse zur Auswahl. Pro Brötchenhälfte nimmt man 1/2 Butter und noch ausreichend Belag. Durch das Stillschweigen an meinem Tisch habe ich absoluten Horror vor dem Essen. Wieder esse ich nur Bissen für Bissen und Kaue wie eine Kuh jedes einzelne Mehlkorn zu Brei. Am Ende brauche ich für eineinhalb Brötchen ganze 30 Minuten und bin anschliessend geplättet. Zu Hause geht das auf 10 Minuten.

 

Ich spreche meine Therapeutin darauf an, den ich schaffe die kompletten Portionen nie auf einmal und das ist das Ziel hier. Ich rebelliere drei Tage gegen das System Portionsgrößen, rufe noch mal weinend zu Hause an, das ich hier raus will. Endlich, nach dem ich jeden Arzt und Therapeuten schrecklich angemacht habe, stimmen die Portionsgrößen für mich und ich habe nun Zwischenmahlzeiten.

 

Die Portionsgrößen bereiten mir großes Unbehagen, auch nach 5 Tagen hier. Ich habe jeden einzelnen Morgen Angst, das ich mehr wiegen könnte wie den Vortag. Mein kompletter Tag besteht nun aus:

  • 1 1/2 Brötchen mit Butter und Belag auf Frühstück und Zwischenmahlzeit 1
  • eine 1/2 Portion Mittagessen
  • 1 großes Stück Kuchen als Zwischenmahlzeit am Nachmittag
  • 3 Scheiben Kastenvollkornbrot mit 1 1/2 Butter und entsprechend Belag auf Abend  und Abendsnack

 

Und wieder bin ich morgen auf die Waage gespannt.

 

Seit Mittwoch Mittag bin ich dann auch seelisch angekommen. Keine Rebellion, ich schwimme im Fluss der Therapie. Im Moment ist es mir egal, an welchen Tisch ich sitze (Tischwechsel heißt, das man sich einen Bonus erarbeitet und freier in der Auswahl ist) ich lasse es gelassen auf mich zukommen.

 

Und heute, der erste Tag wo ich eine Stunde draußen war. Wie herrlich das war. Wir waren zu Dritt und das erste Mal draußen seit Ankunft. Und das ich Treppen laufen darf ... so klasse. Bevor man das darf, müssen halt auch die Blutwerte stimmen, nicht das man unterversorgt ist. Und ich sitze jetzt auch nur mehr 1 Stunde nach jedem Essen im Schutzraum. Wobei, oft sind die Gespräch so lustig und das spielen oder malen .... upps Zeit vergessen und schon war man länger in der Schutzzone.

 

Jetzt warte ich das erste Wochenende ab. Ist ja Therapiefrei. Das begleitete Essen und die Schutzraum-zeit steht aber.

 

Außerdem ist mir hier bei den Therapien aufgefallen, das ich viel mehr Esstörungssymptome habe, als mir eigentlich bewusst ist. Ja, es ist die beste Entscheidung für mich, das ich hier hergegangen bin. Und ganz langsam kann ich loslassen und den Ärzten, Therapeuten und der Pflege vertrauen. Hier versteht man mich, hier tritt man mir zur Not in den Hintern, hier hilft man mir.