Essstörung – betrifft mehr als man denkt!

Nicht jeder der Untergewichtig oder Übergewichtig ist, hat automatisch eine Essstörung. Nicht jeder der auch mal eine extrem Diät macht oder immer wieder Diäten macht, ist automatisch Essgestört.

Aber Essstörung heißt ebenfalls nicht, das man nur dann eine Essstörung hat, wenn man folgendes Unternimmt um sein Gewicht zu kontrollieren:

  • Bewusst herbeigeführtes Erbrechen
  • Missbrauch von Entwässerungskapseln
  • Missbrauch von Abführmitteln
  • Missbrauch von diversen Diätkapseln
  • Verweigerung von Essen
  • Essensverbote


Denkt man an Essstörung, denkt man auch meist noch in Kategorien und dann erschöpft es sich schon.

Als ersten kommen einen:

  • Magersucht (Anorexie)
  • Ess-Brech-Sucht (Bulimie)
  • Binge-Eating-Disorder (Hemmungslose, hochkalorische Essattacken ohne Kompensation)
  • Vielleicht noch die A-Typische Essstörung die sich irgendwie aus allem zusammensetzt.


Aber dann hört die Fantasie schon auf. Wenn man sich nicht zu diesen „Offensichtlichen“dazurechnet, dann hat man ganz einfach KEINE Essstörung. Das ist ein weitgefehltes und längst überholtes Vorurteil.

Wenn man das Wort „Essstörung“ anders formuliert, wird vielleicht vieles schon klarer und man muss sich dann doch näher damit auseinandersetzten, wenn man sich selbst ehrlich und radikal einschätzen möchte.

Essstörung = gestörtes Verhältnis zum Essen

Eine Person mit einer Essstörung hat also nichts anderes, als ein gestörtes Verhältnis zum Essen. So wenig spektakulär und medizinisch sich das jetzt anhört, umso schlimmer ist es eigentlich in der Bedeutung. Den es heißt im Umkehrschluss, dass vielmehr Menschen von Essstörung sind, als sie es selbst eigentlich wahrhaben wollen.

Ein gestörtes Verhältnis zum Essen liegt unter auch dann vor, wenn man:

  • Ohne Allergien und körperliche Beschwerden, bestimmt Nahrungsmittelgruppen verbietet, weil man Angst hast davon zuzunehmen.
  • Wenn man seinen Teller immer und ständig nach Nährwerten und Kaloriengehalt zusammenstellt. (Ich spreche hier von „IMMER“ und nicht von ab und zu als kleines Feedback zwischendurch, ob noch alles rund läuft!)
  • Wenn man absichtlich einen Gewichtsverlust aufrecht hält oder herbeiführt, obwohl man weiß das man eine Grenze überschritten hat.
  • Wenn man spontane Essen oder Essen außer Haus absagt / ablehnt, weil damit das ganze Abnehm- oder Halteprogramm vermeintlich in Gefahr gerät.
  • Wenn sich die Gedanken im ungesunden Rahmen ständig um Nahrungsmittel, Kochen und Essen drehen. (eine ständige, gedankliche Auseinandersetzung mit dem Thema Essen)
  • Wenn heimlich gegessen wird
  • Wenn über Portionsgrößen oder Essen im Allgemeinen gelogen wird. (Ich esse soviel und nehme trotzdem immer noch ab *dazu mehr weiter unten)
  • Wenn man den eigenen Körper ablehnt und sich nur noch über Zahlen oder Kleidergrößen definieren kann.
  • Wenn 1 oder 2 Kilo mehr eine wirklich große seelische Belastung darstellt, wenn der Verstand doch weiß, dass es auch mal Wassereinlagerungen sein können.
  • Wenn man das Essen über Stunden hinauszögert, obwohl man Hunger hat.
  • Wenn man Ausreden erfindet, um nicht essen zu müssen.
  • Wenn Essen zu einem komplizierten Ritual wird und es richtig schlimm ist, wenn dieses Ritual nicht eingehalten werden kann.
  • Wenn man zwanghaft und ständig auf der Waage steht (Waage verschiebt um anderswo vielleicht weniger zu wiegen, sich vor und nach dem WC-Gang zu wiegen, verschiedene Körperstellungen auf der Waage ausprobiert um ein niedrigeres Gewicht zu sehen…)
  • Wenn man nur dann ohne schlechtes Gewissen essen kann, weil man sich vorher in den eigenen Augen genug bewegt hat (exzessiver Sport)


Diese Aufzählung ist mit Nichten komplett.

*Wenn jemand früher durch Essen sehr übergewichtig geworden ist, dann ist es wohl nur selten der Fall das der Körper plötzlich ins totale Gegenteil verkehrt. Man nimmt nur dann weiter ab, wenn man weniger Energie zuführt, als der Körper braucht. Es ist meist nur eine Sache, dass man sich selbst gegenüber ehrlich ist und Bestandsaufnahme macht.

  • Zähle ich vielleicht doch panisch Kalorien?
  • Will ich mir vielleicht doch noch ein niedrigeres Gewicht für etwaige Feste ansparen?
  • Ist meine Panik vor einer erneuten Zunahme so groß, dass ich lieber mit Untergewicht dagegen steuern möchte?
  • Weiß ich vielleicht gar nicht, wie das Gewicht halten geht?
  • Will ich einfach nicht aufhören mit dem abnehmen, weil es so ein unsagbar tolles Gefühlt ist. Und mit was ersetzte ich dieses tolle Gefühl, wenn ich nicht mehr abnehme?
  • Vielleicht manipuliere ich mich unterbewusst selbst, um nicht mit dem abnehmen aufzuhören
  • Vielleicht hört es sich besser an, wenn ich anderen von meinem Kampf mit dem Gewicht halten schreibe oder das ich einfach so ohne eigenes Zutun weiter abnehme (warum hat das ohne eigenes Zutun abzunehmen dann vorher nicht geklappt)


Es gibt so viele Gründe nicht mit dem Abnehmen aufhören zu können, aber in den aller seltensten Fällen hat es was damit zu tun, dass der Körper nicht aufhören kann. Es ist der Kopf und die Psyche, die das nicht können. Aber um das zugeben zu können, bedarf es einer eigenen Einsicht, die zum jetzigen Zeitpunkt vielleicht auch einfach noch nicht geht.

Ein gestörtes Verhältnis zu essen geht also weit über das Erbrechen und Essen verbieten hinaus und fängt viel früher an, als allgemeinhin angenommen. Ich habe all diese Symptome bei mir oder meinen Mitpatienten in verschiedenen Therapien und Kliniken gesehen und wir habe, nach der eigenen Krankheitseinsicht ehrlich darüber gesprochen.

Eine Essstörung kommt meist nicht alleine daher. Entweder eine andere psychische Krankheit war der Auslöser oder es gesellt sich eine weitere psychische / körperliche Krankheit dazu. Das nennt man dann Kormorbität. Ich könnte zum Beispiel nicht die Hand darauf legen was zuerst da war.

Die Essstörung oder die Depression. Was aber mit der Essstörung später hinzukam, war die Körperschemastörung. Diese geht sehr oft Hand in Hand mit einer Essstörung. Egal wie dick oder dünn man ist, man kann es wirklich nicht im Spiegel erkennen. Und da kann man noch so genau gucken, man sieht es wirklich nicht.

Bei Essstörungen oder eben dem gestörten Verhalten zum Essen sollte man nicht lange fackeln. Sobald die Krankheitseinsicht kommt, auf die Suche nach einer Therapie machen. Es ist schwierig einen Therapieplatz für Essstörung zu bekommen und die Wartelisten sind lang.

Essstörungen sind eine sehr komplexe Krankheit und oft wechseln sich die einzelne Essstörung ab und ersetzten einander. Je früher man die Krankheit erkennt und behandeln lässt, umso leichter lässt sie sich heilen. Hat sie sich erst einmal über Jahre manifestiert, muss man oft ganz tief graben.

Einen Therapieplatz zu finden, wenn man Essstörung hat und gleichzeitig noch eine Adipositas-OP hatte, ist noch einmal eine andere Herausforderung. Nicht viele Therapeuten oder Kliniken kennen sich mit den OPs und dem angemessenen Essverhalten und Portionen danach aus. Oftmals werden Unverträglichkeiten oder Portionen als ein zusätzliches Symptom der Essstörung gewertet und die Therapie wird dadurch erschwert oder falsch.

An erster Stelle steht aber immer die Krankheitseinsicht. Solange nur andere die Essstörung haben und man selbst findet, dass man sein Essverhalten unter Kontrolle hat (und da beginnt es, Essen hat nichts mit zwanghafter Kontrolle zu tun), so lange schlittert man weiter und tiefer in ein gestörtes Essverhalten. Wenn man dann soweit ist und zugeben kann, dass man die Kontrolle über die Kontrolle verloren hat, dann kann der Heilungsweg und die Therapie beginnen.

Du hast es bis hier runter geschafft? Gratuliere.

  • Dir ist beim Lesen einige Male die Hutschnur hoch, weil du dich ertappt gefühlt hast?
  • Du musst aber aus ganz rationalen Gründen so essen oder Rituale einhalten, wie ich so oben beschrieben habe?
  • Du gehst in eine Verteidigungshaltung und findest es vollkommen Scheisse was ich da behaupte?
  • Du bist der festen Überzeugung, nicht jeder der sich in Teilen so verhält wie oben beschrieben, hat ein gestörtes Verhältnis zum Essen?
  • Du denkst, eine andere psychische Erkrankung lässt dich nicht anders handeln, als wie oben beschrieben?
  • Du denkst ich bin eine arrogante Sau und hänge hier den Max raus? Das ich die Weisheit mit dem Löffel gefuttert habe?
  • Du denkst, du hast die volle Kontrolle über dein Essverhalten und alle anderen um dich herum täuschen sich - die sind einfach vollkommen auf dem Holzweg, was dich selbst betrifft?

Gratuliere, du bist schon längsten Passagier im Zug der Essgestörten und deine Reaktion auf meinen Bericht zeigt nur, das die Essstörung die Kontrolle über dich hat und du hier hörig bist.

Ich habe den Wunden Punkt erwischt und das tut verdammt weh und du wirst mich dafür hassen. Das ist in Ordnung!

Den ich weiß auch, du wirst mich genauso so lange hassen, bis es irgendwann Klick macht und man erkennt in welche Scheisse man sich über viele Monate geritten hat. Auch das ist vollkommen in Ordnung. Ich war genauso, ich kenne das. Die überhebliche Arroganz der anderen, die ja überhaupt nicht über meine eigenen Gründe Bescheid wissen und warum ich so Ess-Regeln habe, wie ich sie habe. Die wissen doch gar nicht, was ich alles für Unverträglichkeiten habe, oder was mir nicht mehr schmeckt oder schmeckt? Lass die ruhig mal labbern, ich weiß was ich tue und ich bin meilenweit von einerr Essstörung entfernt.

 

In Verteitigungshaltung und zu Rechtfertigungen greift in den allermeisten Fällen nur der, der etwas zu Verteidigen hat. Das schlimme an der Essstörung ist, das man sie sich nur sehr spät eingestehen kann, weil die Angst, wenn man loslässt und Heil werden möchte, die große Zunahme am Ende steht.

 

ABER das stimmt überhaupt nicht - das ist nicht Zwangsläufig so!

Wenn du während der Essstörung ein zu niedriges Gewicht hast, wirst du klar zunehmen. Aber eben so zunehmen, wie dein Körper es für seine optimale Versorgung braucht. Und für seine optimale Versorgung braucht er weder zuviel noch zuwenig Gewicht. Er braucht sein indivuelles Gewicht, das ihm persönlich gut tut. Und das tun weder zu wenige noch zuviele Kilos auf den Rippen. Es wird, wenn du dich ernsthaft mit einer Heilung auseinander setzt, eher wieder eine Balance einkehren.

 

All diese zwanghaften Regeln fallen weg und das kann echt verdammt viel Angst machen. Ich habe vielleicht die Hälfte meiner Regeln über Bord geworfen und nur mit viel Mühe und Ängste, aber ich sehe wie gut es mir damit geht. Ich schlage deswegen nicht gnadenlos über die Stränge, sondern es fühlt sich einfach nur leichter an. Keine Gedanken mehr daran zu verschwenden, wen man spontan Essen geht, wie ich das alles auf die Reihe bekomme. Einfach bestellen, was übrigbleibt in die von zu Hause mitgebrachte Schüssel verfrachten und mir keine weiteren Gedanken darüber machen.

 

Kein schlechtes Gewissen mehr haben, wenn der Körper oder die Seele erschöpft ist und man mal für 2, 3 oder sogar 4 Wochen eine Sportpause einlegt. Weil man inzwischen gelernt hat, das der Körper dann auch von alleine wieder nach Sport und Spass ruft. Alles hat halt seine Zeit und auch die Ruhephasen haben ihre Zeit und ihren Sinn.

 

Das schwierigeste am Gesund werden von der Essstörung? Ich würde sagen, es sich im stillen Kämmerlein eingestehen zu müssen, das da jetzt was komplett aus dem Ruder gelaufen ist, von dem ich dachte, ich hätte es zu 100% unter meiner Kontrolle. Ehrlich gesagt hatte ich überhaupt nichts unter meiner Kontrolle sondern die Essstörung hat zu 100% mich kontrolliert.

 

Mir einzugesteheh, das ich da nicht mehr rauskomme ohne Hilfe, das hat mich wütend, aggressiv und vollkommen hilflos dastehen lassen. Ich habe geheult, meinen Mann und meine Umwelt angegiftet und war in der Zeit der Krankheitseinsicht eine ganz schreckliche Person. Aber als ich das hinter mir lassen konnte, ab da ging es dann ein klein wenig einfacher.

 

Ich bin seit über einem Jahr in Therapie und erst vor ein paar Wochen habe ich meiner Therapeutin gesagt, das ich erst JETZT wirklich daran glauben kann, das ich das schaffe. Bis dahin habe ich es mir einfach nur selbst vorgesagt, aber nicht richtig daran geglaubt. Meine Therapeutin hat mich zu Beginn gefragt, ob ich Willens bin gesund zu werden und ich habe das damals bejaht. ABER ich war es NICHT!

Ich wollte lediglich meiner Umwelt einen gefallen tun und mich halt pseudotechnisch in eine Therapie begeben, das ich sagen kann: ich hab es ja versucht. Nicht mehr und nicht weniger.

 

Ich bin zu tiefst dankbar, das mich meine Therapeutin mit ihrem für mich richtigen Ansatz durchbegleitet hat. Es war ein hartes Stück Arbeit und ich dachte immer wiede bei mir, das macht so gar keinen Sinne und nur die anderen bilden sich ein, das ich eine Essstörung habe. Den ICH habe alles unter Kontrolle.

 

Bin ich inzwischen Gesund? Nein! Aber ich bin defintiv gesünder als noch vor 14 Monaten, als ich mit der Therapie begonnen habe.

 

Werde ich jemals frei von Essstörung sein? Ja, daran glaube ich mit jeder Faser meines Herzens.

 

ABER ich werde immer ein Auge auf mich haben müssen. Ich empfinde die Essstörung wie eine Alkoholsucht und ich bin danach lediglich eine "trockene Essgestörte" die gewisse Verhaltensmuster ihr ganzes Leben lang meiden sollte. Für mich wären da zum Beispiel: Die Verstopfung aussitzen oder es mit Leinsamen oder Chiasamen versuche. Abführmittel sind für mich für den Rest meines Lebens ein Tabu und das weiß  ich sehr genau.

Irgendwelche Empfehlungen von irgendwelchen diversen Pülverchen oder Mittelchen die den Fettstoffwechsel anheizen. Puh, wenn ich da jemals wieder Anfange bin ich mittendrin in der schönsten Essstörung.

Das sind zwei meiner ganz persönlichen Trigger, die ich meiden muss. Ebenso wie Kalorienzählen oder sehr einseitiges Essen.

 

Jeder hat andere Trigger, die er nach und nach erkennt und die er mit dem Gesund werden ablegen muss. Aber sie zeigen sich einem, im Laufe des Gesund werdens und man kann die eigenen Schwachstellen immer besser erkennen und abstellen.

 

Für mich heißt es, weiter an mir zu arbeiten.

 

Den Beitrag schreibe ich für die, die das von außen Beobachten und sich vielleicht schon überlegt haben, solche Verhaltensmuster selbst zu integrieren. Die vielleicht neidvoll auf ganz niedrige BMIs blicken und sich über ihren eigenen BMI, der irgendwo zwischen 24,? und 30 liegt ärgern. Macht das nicht, nehmt euch das nicht zum positiven Beispiel. Fallt nicht ein in die Loblieder, wenn jemand noch weniger wiegt. Denkt lieber daran, wenn man sich der Waage zu sehr unterordnet, das es auch eine Qual ist, das niedrige Gewicht dauerhaft zu halten.

 

Ihr, die ihr noch ein gesundes Ess- und Bewegungsverhalten habt, ihr seit genau richtig und ihr seit verdammt gut so, wie ihr seit. Seit glücklich damit und seit froh, den wen die Essstörung dich einmal in ihren Klauen hat, dann ist es richtig schwer, ihr wieder zu entkommen.

 

Den wie oben schon erwähnt, die Krankheitseinsicht (das einzige entscheidende und wichtigeste Detail zum wieder Gesund werden) braucht oft Jahre, bis sie stark genug ist und sich heraus traut.